HÄUSER-AWARD 2014 - Kleine Häuser

VPB-Experten: Architektenhäuser müssen nicht teuer sein

Der Häuser-Award 2014 stand unter dem Motto "Die besten Einfamilienhäuser mit kleiner Wohnfläche". Das Preisgericht prämierte Eigenheime mit maximal 150 Quadratmetern Wohnfläche, durchdacht geplant, raumsparend und doch schick gestaltet.

Seit 2005 gehört der VPB zu den Auslobern des Preises und vergibt zusätzlich jedes Jahr den mit jeweils 1.000 Euro dotierten VPB-Bauherrenpreis. Diesen Bauherrenpreis bekommen die ersten drei prämierten Bauherren – sofern sie nicht selbst die Architekten des Hauses sind.

"Familien brauchen gute, aber bezahlbare Häuser. Mit unserem alljährlichen "Bauherrenpreis" möchten wir deshalb gerade junge Menschen zum Bau eines selbst geplanten Familienhauses ermutigen", erläutert Architekt Thomas Penningh, Präsident des Verbands Privater Bauherren (VPB) und Mitglied der Jury, die alljährlich den renommierten Häuser-Award der Architekturzeitschrift "Häuser" verleiht.

"Viele junge Familien haben heute angesichts der Baulandpreise kaum Aussicht auf ein eigenes Haus. Der Wettbewerb zeigt anschaulich, wie sich selbst auf kleinsten, problematisch geschnittenen Grundstücken anspruchsvolle Architektur verwirklichen lässt", erläutert der VPB-Präsident.

Die Siegerobjekte 2014 stehen im niederländischen Leiden, in Berlin und in London, der Zusatzpreis geht nach Stuttgart. Die Gewinnerobjekte beweisen: Wohnqualität ist keine Frage des Platzes! Eine gut durchdachte Planung, geschickt organisierte Grundrisse und raumsparende Konzepte ermöglichen komfortables Wohnen auch auf kleiner Fläche.


1. Preis: Stripe House

Der erste Preis des Häuser-Awards 2014 geht an das "Stripe House" in Leiden in den Niederlanden. Das Stadthaus fügt sich als schlichter Kubus in eine Häuserzeile und fällt doch aus der Reihe: Ein vorgelagerter Innenhof schafft Distanz zur Straße, umlaufende horizontale Rillen strukturieren die helle Putzfassade, die von wenigen großformatigen Öffnungen durchbrochen wird. Mit geschickter Planung und einem sehr ökonomisch organisierten Grundriss gelang dem Architektenpaar Esther Stevelink und Arie Bergsma (GAAGA studio for architecture) auf winzigem Grundstück ein großzügiges Domizil, das Wohnen und Arbeiten in einem Gebäude vereint. Eine Sonnenterrasse auf dem Dach erweitert die Wohnfläche und bietet einen fantastischen Rundumblick über das gesamte Wohnviertel.

Nur 95 Quadratmeter maß das Grundstück in der niederländischen Stadt Leiden. Weil Arie Bergsma und Esther Stevelink vom Architekturbüro GAAGA dem Areal dennoch ein modellhaft großzügiges Stadthaus abtrotzten, gewannen sie den ersten Preis.

Kleine Länder können kleine Häuser. Besonders die Niederländer sind das Leben auf begrenztem Raum seit Jahrhunderten gewohnt und haben es in erstaunlichen Reihen- und Stadthäusern perfektioniert. Ganze Quartiere wurden hier zu Modellsiedlungen, in denen bis heute immer neue Varianten eines klassischen Bautyps erprobt werden. So wie jetzt in der idyllischen Universitätsstadt Leiden, wo die Amsterdamer Meisterplaner von mvrdv am Rande des Zentrums ein ehemaliges Gewerbeareal für Stadthäuser neu parzelliert haben.

Als die Architekten Arie Bergsma und Esther Stevelink vom Büro gaaga von dem Projekt erfuhren, griffen sie sofort zu. Das Paar entschied sich für ein nur 95 Quadratmeter großes Grundstück am Rande der Siedlung, das an einen Kanal und einen Park grenzt. "Wir wollten mitten in der Stadt wohnen, aber nicht auf Licht, Luft und Ausblicke verzichten", erklärt Esther Stevelink und skizziert damit schon fast den Bauplan ihres hoch aufragenden Eckhauses mit den auffällig großen Fenstern in der hellen Putzfassade.

Baurechtliche Hürden musste das Architekten-Duo kaum überwinden: "Im Grunde war nur die Traufhöhe vorgegeben, wir konnten also ziemlich frei planen." Das taten natürlich auch die Nachbarn, die ihre Individualität in einem leicht kakophonischen Fassadenmix entlang der verkehrsberuhigten Straße ausleben. Das Haus von Stevelink und Bergsma ist da anders.

Wahre Größe auf kleiner Fläche

"Uns ging es um einen ruhigen Gegenpol zur Umgebung", erzählt Arie Bergsma. Eine klare persönliche Note hat der Bau trotzdem, und die verhalf dem "Stripe House" auch zu seinem Namen: Den solide zweischalig gemauerten Quader aus Ziegel und Kalksandstein umhüllten die Planer mit einem blass beigefarbenen Reliefputz, der von Hand mit einem Spezialwerkzeug aufgebracht wurde und in seinem strengen Linienmuster an Barcodes erinnert.

Die gut 160 Quadratmeter Nutzfläche brachte das Paar ohne Mühe auf drei Etagen unter. Schon im Erdgeschoss zeigt sich bei unserem Rundgang, dass es den Architekten weniger um Flächenmaximierung als um Raumoptimierung ging. Verzichteten die beiden doch bewusst auf ein Viertel der bebaubaren Fläche und legten lieber einen von mannshohen Mauern geschützten Eingangshof an, der ihnen auch als Miniaturgarten dient. Der baumbestandene Patio sorgt für mehr Privatsphäre und für einen geschickten Übergang vom öffentlichen in den privaten Raum.

Unten im Erdgeschoss haben die Architekten ihr Büro eingerichtet. Hier arbeiten sie gerade an einem umfänglichen Wohnprojekt im Zentrum Leidens und blicken dabei durch das große rückwärtige Fenster über Gracht und Brücke auf die Stadt. Wir wenden uns zurück ins Entree, steigen dann über die genial-einfache und konkurrenzlos preiswerte Fertigteiltreppe aus Beton hinauf ins Obergeschoss und staunen im offenen Wohn- und Essbereich über die Raffinesse dieses Entwurfs: Durch raumhohe Panoramafenster auf den Schmalseiten geht der Blick hinaus und weitet sich auf den Park und die Nachbarhäuser. Verschwenderisch fällt das Tageslicht ein. Doch damit nicht genug: Entlang der Nordfassade mit dem Riesen-Sideboard der minimalistischen Küchenzeile weicht die obere Geschossdecke galerieartig zurück und öffnet hier den Raum auf beeindruckende fünfeinhalb Meter lichte Höhe. Und da auch diese Wand in Höhe des Dachgeschosses in einem breiten Fenster aufgelöst ist, blicken wir vom Essplatz aus geradewegs in den blassblauen holländischen Himmel.

alle Fotos: Luc Roymans

Stripe House

  • Architekturbüro: gaaga studio for architecture, Esther Stevelink & Arie Bergsma, Wattstraat 8, NL-2316 SK Leiden
  • Bauzeit: 2010–12
  • Wohnfläche: 114 m2, Nutzfläche: 48 m² (Büro)
  • Grundstücksgröße: 95 m²
  • Baukosten: 305.000 Euro
  • Bauweise: massiv, zweischaliges Mauerwerk aus Ziegel und Kalksandstein, Kerndämmung
  • Fassade: Putz
  • Dach: Flachdach
  • Raumhöhe: 2,62–5,50 m
  • Decken/Wände: Putz
  • Fußboden: Eichenparkett
  • Energiekonzept: Fernwärme, Fußbodenheizung, Lüftungsanlage mit Wärmerückgewinnung
  • Jahresheizwärmebedarf (Qh): 39,0 kWh/m²a
  • Jahresprimärenergiebedarf (Qp): 78,0 kWh/m²a


Grundrisse finden Sie auf der Website der Zeitschrift "Häuser":
http://www.haeuser-award.de/.../downloads/Raffinierter%20Raumriese.pdf


2. Preis: Haus am See

Platz zwei des Häuser-Awards 2014 belegt ein Haus am See bei Berlin. Die Architektin Hannelore Kaup erfüllte damit den Wunsch der Bauherren nach einem Wochenenddomizil, das einfach und kompakt wie ein Bootshaus anmutet. Der zeitlose Entwurf, der mit seiner lebendigen Ziegelfassade dem sanft abfallenden Terrain folgt, überzeugte die HÄUSER-Jury. Das Gebäude mit schlichtem Satteldach öffnet sich mit großen Fensterfronten zum Wasser hin. Die Fassade aus klassischem dänischen Ziegel kontrastiert reizvoll mit Akzenten aus Stahlbeton und Holz. Das Hausinnere wirkt durch die zunehmende Deckenhöhe größer, als man es von außen vermutet.

Praktisch und kompakt wie ein Bootshaus. So wünschten sich die Bauherren ihr Wochenenddomizil bei Berlin. Hannelore Kaup gelang ein zeitloser Entwurf, der sensibel dem Gelände folgt und die HÄUSER-Jury überzeugte. Wer gern segelt, liebt es, mit dem Boot aufs Wasser hinauszufahren, die Nase im Wind, die Sonne auf der Haut, allein mit den Elementen. Weil die Windgewöhnten aber auch abends, wenn die Segel eingeholt sind und das Boot wieder in der Marina vertäut ist, gern noch Natur um sich spüren möchten, baute die Berliner Architektin Hannelore Kaup einem Seglerpaar dieses Haus am See bei Berlin. "Bootshaus" lautete der Gebäudetypus, an dem sich die Planung orientieren sollte: ein kompakter Baukörper mit schlichtem Satteldach, der sich zum Wasser hin öffnet, vorn eine große Fensterfront wie ein Tor und darüber ein horizontales Fensterband, damit die Bewohner vom Schlafzimmer aus gleich morgens auf den See blicken können.

"Auf dem Grundstück in Hanglage wollten wir das Haus zum See ausrichten, der nördlich gelegen ist", erklärt Hannelore Kaup, "deshalb entschlossen wir uns, im oberen Bereich des Grundstücks zu bauen und mit Fenstern Richtung Westen und Norden für möglichst viel natürliches Licht zu sorgen." Nebengebäude und Haus wurden mit einer Fassade aus dänischem Ziegel als zweischaliges Mauerwerk mit Kerndämmung ausgeführt. Der dunkle Stein ist pflegeleicht und klassisch, ergänzt sich aber auch gut mit den Akzenten aus Stahlbeton und Holz, die an Hauseingang und Terrasse gesetzt wurden.

Praktisch wie ein Bootshaus

Den maritimen Charakter des Hauses unterstreicht auch die Überdachung der Terrasse. In dem schlanken Betongerüst sind Stahlschienen eingelassen, über die sich ein Sonnenschutz aus Segeltuch aufziehen lässt. Erst auf den zweiten Blick erschließt sich eine feine, beabsichtigte Asymmetrie: Die Gebäudeachsen von Haus und seitlich verlaufender Pergola sind um etwa fünf Grad verdreht, wodurch das Ensemble leicht aufgefächert wird und die Öffnung zum See auch in den Außenanlagen zum Ausdruck kommt.

Wer das Haus betritt, hat sogleich den Eindruck, es sei innen größer als von außen vermutet. Vom kleinen Flur aus blickt man durch den offenen Wohnraum auf die Terrasse und den Außenbereich. Dabei zeichnet das Innere sinnfällig das abfallende Terrain nach: Die im Flur noch relativ niedrige Deckenhöhe von 2,30 Meter steigert sich über zwei Versprünge bis zum Wohnbereich auf großzügige 3,48 Meter. Die Stufen schaffen dadurch drei Zonen im Raum – zum Kochen, zum Essen und zum Wohnen - und von jedem Bereich aus kann man den See sehen. Nur ein kleines Wandstück unterbricht einmal den Blick, an dieser Stelle sind die Züge für den Kamin eingebaut, der Ess- und Wohnbereich voneinander trennt. Eine Treppe führt ins Obergeschoss, wo die Schlaf- und Badezimmer untergebracht sind und wo der bis zum First offene Raum am Nordgiebel mit einem Fensterband das schönste Seepanorama feiert, das sich denken lässt.

Haus am See

  • Architekten: Hannelore Kaup Architekten, Friedbergstraße 7, 14057 Berlin, Tel. 030-3957392
  • Bauzeit: 2011–12
  • Wohnfläche: 133 m², Nutzfläche: 44,5 m²
  • Grundstücksgröße: 1098 qm
  • Baukosten: 450.000 Euro
  • Bauweise: massiv, zweischalig, Kalksandstein/Ziegel
  • Fassade: dänischer Klinker
  • Dach: Satteldach, Biberschwanzdeckung
  • Raumhöhe: 2,30–3,48 m
  • Decken/Wände: Gipsputz
  • Fußboden: Solnhofer Platten; Holzdielenboden Eiche, geölt
  • Energiekonzept: Flächenheizung in Wand und Boden, Wärmepumpe, Kaminofen
  • Jahresheizwärmebedarf (Qh): 65 kWh/m²a
  • Jahresprimärenergiebedarf (Qp): 66 kWh/m²a
  • Spezif. Transmissionswärmeverlust (ht-Wert): 0,43 W/m²K


Grundrisse finden Sie auf der Website der Zeitschrift:
http://www.haeuser-award.de/.../downloads/Haus%20am%20See.pdf


3. Preis: Schmales Stadthaus mit neuem Dach

Der dritte Preis des Häuser-Awards 2014 geht an das „Slim House" in London. Das Planertrio von Alma-nac collaborative architecture erschließt das schmale Stadthaus zur Gartenseite hin mit einem neuen Dach auf einzigartige Weise. Von außen wirkt das gerade einmal 2,30 Meter breite Gebäude wie ein Kuriosum. Sobald man es aber betritt, erblickt der Besucher ein offenes Zuhause mit ungewöhnlichen Perspektiven: Die drei Etagen des historischen Hauses sind dank großzügiger Dachflächenfenster lichtdurchflutet; durch ein vom First bis zum Erdgeschoss abfallendes Pultdach wurde viel Raum gewonnen. Bei allem Mut zur Veränderung bewiesen die Architekten aber auch Gespür für den Bestand. So ließen sie eine Ziegelwand im Giebelbereich unverputzt und erinnern damit an die Vergangenheit des Hauses.

Selbst ein 2,30 Meter breiter Altbau lässt sich in ein großzügiges Familienheim verwandeln. Das Planertrio von Alma-nac erweiterte und erhellte dazu ein Londoner Stadthaus mit einem neuen Dach. Die Jury staunte und gratuliert zum 3. Preis.

Natürlich sollte man Häuser nicht personalisieren und zu Charakteren stilisieren. Doch dieses Haus ist durch und durch scheinheilig! Eine exquisite Mogelpackung! Von außen, inmitten einer belebten Hauptstraße im Südlondoner Stadtteil Clapham, wirkt das Gebäude, wenn man es denn überhaupt bemerkt, wie ein Kuriosum. Es ist gerade einmal 2,30 Meter breit. Das sind die Maße eines regulären Pkw-Stellplatzes. Sobald man es aber betritt, öffnet sich dem Besucher ein lichtdurchflutetes, offenes Zuhause mit ungewöhnlichen Perspektiven: Im Wohnraum stehen die Sofas nicht wie üblich gegenüber, sondern nebeneinander. Und an den Wänden sorgen große Spiegel für optische Tiefe.

Ohne den Geniestreich des Londoner Architektenteams Alma-nac wäre dieses kleine Raumwunder nicht denkbar. Alles begann mit einem eigentlich unmöglichen Umbauauftrag: Die drei Etagen des historischen Hauses waren aufgebaut wie eine Treppe. Das Erdgeschoss mit der Küche griff tief in den schmalen Garten aus. Darüber folgte die erste Etage mit geringerer Grundfläche und oben schließlich das noch kleinere Dachgeschoss. Es gab viele kleine Zimmer und viel zu wenig Licht. "Mit so einem schmalen, sehr tiefen Grundriss wirkte das Gebäude fast klaustrophobisch", erinnert sich Tristan Wigfall von Almanac.

Ungeahnte Raumreserven

Die Architekten wagten den Befreiungsschlag. Sie setzten auf ungehinderte Blicke in den Himmel und auf Raumgewinn zur Gartenseite durch ein vom First bis zum Erdgeschoss abfallendes Pultdach. Über die homogene Schieferfläche sind heute großformatige Fenster locker verteilt, wie Steine auf einem Mühle-Spiel. Unter dem Dach entstanden neue Räume, etwa ein helles Esszimmer im Erdgeschoss, ein Schlafzimmer im ersten und ein Arbeitszimmer im zweiten Stock. Dank der großzügigen Dachflächenfenster dringt nun überall reichlich Licht in das schmale Bauwerk ein und schafft auf begrenztem Raum sofort ein Gefühl von Weite.

Schmales Stadthaus

  • Architekten: Alma-nac Collaborative Architecture, Tristan Wigfall, 11 Waterloo Court, 10 Theed Street, London se1 8st,?Tel. +44-20-79282092
  • Bauzeit: 2012
  • Wohnfläche: 98 m²
  • Grundstücksgröße: 90 qm
  • Baukosten: 92.000 Euro
  • Bauweise: Mauerwerk und Holzrahmenbau
  • Fassade: Schiefer
  • Dach: Pultdach, Schiefer
  • Raumhöhe: 2,65 m (EG), 2,45 m (1. und 2. OG)
  • Decken/Wände: Putz, gestrichen, Mauerwerk
  • Fußboden: Parkett, Fliesen, Teppichboden


Grundrisse finden Sie auf der Website der Zeitschrift:
http://www.haeuser-award.de/.../Nichts%20ist%20unmo%CC%88glich.pdf


Zusatzpreis: Wohnhaus mit Wänden aus Polycarbonat

Der Zusatzpreis geht in diesem Jahr an das Haus F in Esslingen bei Stuttgart: Extrem schmale Grundstücke sind preiswert, aber oft kaum bebaubar. Dass dem Architekten Thomas Sixt Finckh (Finckh Architekten) trotzdem ein so kompaktes wie großzügiges Familienhaus gelang, liegt an dünnen Außenwänden aus Polycarbonat. Lediglich 4,70 Meter Breite standen für den Hausbau zur Verfügung. Dicke, den Innenraum einengende Mauern verboten sich also von vornherein. Doch nicht nur deshalb entschied sich der Architekt für die Sechs-Zentimeter-Lösung: Neuartige Polycarbonatplatten haben einen sehr guten Wärmedämmwert, halten mindestens 25 Jahre und bringen viel Tageslicht ins Innere.

Polycarbonat ist allgegenwärtig. Man setzt sich den Kunststoff auf den Kopf oder auf die Nase, hantiert täglich damit und nimmt ihn zuweilen sogar in den Mund. Schutzhelme, Brillengläser, Campinggeschirr, CDs und DVDs: Polycarbonat (PC) kommt bevorzugt da zum Einsatz, wo ein hartes, schlag- und säurefestes, steifes, lichtdurchlässiges Material verlangt ist. Im Bauwesen begegnet es einem seit langem bei Gewächshäusern, immer öfter präsentieren sich auch Werks- und Lagerhallen mit weiß-opaken oder auch eingefärbten Fassaden aus PC-Lichtbauelementen.

Aber ein Wohnhaus mit dünnen, durchscheinenden Plastikwänden? Wo gibt's denn so was! Der Architekt Thomas Sixt Finckh, seine Frau Kirstin und ihre Kinder Bo, 16, und Fee, 12, haben es gewagt – und betrachten ihr im Januar 2012 bezogenes Familiendomizil als Gewinn fürs Leben.

"Jahrelang hatten wir rund um Stuttgart vergeblich nach einem bezahlbaren Bauplatz gesucht", erzählt der Planer, der gemeinsam mit seinem Vater und seinem Bruder das Stuttgarter Büro Finckh Architekten betreibt. Eines Abends entdeckte man aber ein "Wahnsinnsangebot" im Internet: ein Grundstück in Esslingen, hoch über der Stadt inmitten einer ruhigen Siedlung am Südhang gelegen und unglaublich günstig. Nur einen Haken hatte die Sache. Die angepriesene Parzelle entpuppte sich als eine nur 9,70 Meter breite, dazu noch äußerst steile Schneise zwischen zwei Wohnhäusern, doch der Preis und die Aussicht gaben schließlich den Ausschlag zum Kauf.

Aber was anfangen mit dem Schlauch? Nach Abzug der vorgeschriebenen Mindestabstände zu den Nachbargrundstücken blieben lediglich 4,70 Meter Breite fürs Haus übrig. Dicke, den Innenraum einengende Mauern verboten sich also. Doch nicht nur deshalb entschied sich der Architekt für die Sechs-Zentimeter-Lösung: "Diese Polycarbonatplatten haben einen Wärmedämmwert wie ein gutes Dreischeibenglas, halten unter Garantie mindestens 25 Jahre und bringen viel Tageslicht ins Innere."

Spiel der Formen im Licht

Die transluzenten Wände machten den kostspieligen Einbau von Fenstern an den Hausflanken überflüssig. Dafür öffnen sich beide Stirnseiten mit raumhohen Glasflächen komplett zur Straße nach Süden und zum kleinen Garten nach Norden. Zwischen seinen elefantösen Nachbarn wirkt das schlanke Bauwerk wie eine Gazelle. Beim Anblick des grazilen Gehäuses fragt man sich unwillkürlich, was ihm wohl Halt geben mag. Auf der Außenhaut jedenfalls zeichnet sich kein Skelett ab.

Der Haupteingang findet sich an der östlichen Giebelwand auf Höhe des ersten Obergeschosses. Über eine Freitreppe aus Gitterrosten geht es, vorbei an der vermieteten Einliegerwohnung im Parterre, die Böschung hinauf. Drinnen empfängt den Besucher ein tagheller Eingangsflur, der sich von PC-Wand zu PC-Wand über die gesamte Gebäudebreite erstreckt. Hier wird auch offenbar, was das Haus im Innersten zusammenhält: ein paar tragende Wände aus Stahlbeton, "roh belassen, wie er aus der Schalung kam".

Architekten:

  • Finckh Architekten, Im unteren Kienle 30, 70184 Stuttgart
    www.finckharchitekten.de
  • Bauzeit: Februar 2011 bis Januar 2012
  • Wohnfläche: 147 m², Nutzfläche: 35 m²
  • Grundstücksgröße: 456 m²
  • Bauweise: Beton-Skelettkonstruktion
  • Fassade: transluzente, hochdämmende Polycarbonatplatten, 6 cm (Giebelfassaden); Sonnenschutzverglasung (Trauffassaden)
  • Dach: Satteldach, Sichtbeton mit integrierter Photovoltaikanlage
  • Raumhöhe: 2,40 m
  • Decken/Wände: Sichtbeton, Polycarbonatplatten
  • Fußboden: Sichtbeton-Estrich, imprägniert, mit Fußbodenheizung
  • Energiekonzept: Solewasser-Wärmepumpe mit zwei Vertikal-Kollektoren à 75 m
  • Jahresheizwärmebedarf (Qh): 39,1 kWh/m²a
  • Jahresprimärenergiebedarf (Qp): 15,4 kWh/m²a
  • Spezifischer Transmissionswärmeverlust (ht-Wert): <0,34 W/m²K


alle Fotos: Mark Seelen

Grundrisse finden Sie auf der Website der Zeitschrift:
http://www.haeuser-award.de/.../Kunststoff%20sei%20Dank.pdf